Donnerstag, 14. September 2017

John Potter: Secret History - Sacred Music by Josquin and Victoria (ECM)

Josquin Desprez (um 1450 bis 1521) wird jeder Musikwissenschaftler in der Renaissance verorten, Tomas Luis de Victoria (um 1548 bis 1611) wohl eher im Frühbarock. Der eine wirkte in Frankreich, der andere in Spanien; beide waren zeitweise auch in Rom tätig. 
Ob der Spanier die Werke seines berühmten französischen Kollegen kannte – viele davon waren im Druck erschienen, und sie waren in ganz Europa verbreitet –, lässt sich heute nicht mehr feststellen. John Potter aber meint, dass man Musikgeschich- te nicht als nur Abfolge von Kompositionen und unter dem Aspekt der Suche nach der originalen Gestalt eines Werkes schreiben sollte. 
Mindestens ebenso interessant findet der Sänger den Blick auf die Rezeptionsgeschichte von Musikstücken – und mit dieser CD bietet er dafür gleich ein Beispiel. Es ist eine spannende Erkenntnis, dass Kompositionen, die man heutzutage als reine Vokalmusik anzusehen geneigt ist, seinerzeit durchaus auch auf Instrumenten gespielt wurden. In diesem Zusammenhang hat sich John Potter den sogenannten „Sekundär- quellen“ zugewandt – „which actually represent the music as it was known and loved by musicians who felt the composers to be kindred spirits long after their deaths“, schreibt der Sänger im Beiheft. 
So finden sich Kompositionen von Desprez und de Victoria erstaunlicher- weise in den Tabulaturen vieler europäischer Lautenisten, und auch Musiker, die Vihuela spielten – eine Art Gitarre, die aber wie eine Laute gestimmt war –, besaßen Abschriften dieser Messen und Motetten. 
Die Klänge jener Zeit rekonstruiert Potter auf dieser CD gemeinsam mit Trio Mediaeval-Sängerin Anna Maria Friman und den exzellenten Vihuela-Virtuosen Ariel Abramovich, Jacob Heringman und Lee Santana. In einigen Stücken ist zudem Hille Perl mit ihrer Viola da gamba zu hören. 
Das klangschöne Album, produziert von Manfred Eicher, wurde im Kloster St. Gerold in den österreichischen Bergen aufgezeichnet, wo Potter bereits zuvor Stücke für Officium und andere Alben mit dem Hilliard Ensemble und mit dem Dowland Project eingespielt hat. 

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