Sonntag, 29. Januar 2012

Václav Talich - Live 1939 (Supraphon)

Das Musik zum Politikum werden kann, zeigt exemplarisch diese CD mit Aufnahmen des berühmten tschechischen Dirigenten Václav Talich (1883 bis 1961). Sie ent- standen im Juni 1939 und umfas- sen den sinfonischen Zyklus Má vlast von Bedrich Smetana sowie die zweite Reihe der Slawischen Tänze von Antonín Dvorák.
Dass sie überliefert worden, ver- danken wir einer Kette von Zu- fällen. Denn es war der Norwegi- sche Rundfunk, der die beiden Konzerte aufgezeichnet hat. Sie wurden auf Philips-Miller-Film auf- genommen - eine sehr teure, aber aufgrund der erzielbaren Klang- qualität attraktive Alternative zu den damals üblichen Acetatplatten, die lediglich über drei Minuten Spielzeit verfügten.
Ein Teil der Aufnahmen in dieser Technologie wurde später auf Magnetband überspielt. Die meisten Filme aber wurden vernichtet. Man darf sich freuen, dass ausgerechnet dieser Mitschnitt auf dem Philimil-Film im Archiv erhalten geblieben ist. Er wurde nun im Auftrag des Labels Supraphon remastert - und begeistert gleich aus mehreren Gründen. 
Da wäre zum einen die faszinierende Interpretation des Smetana-Zyklus Mein Vaterland, die in der Tat eine der besten Aufnahmen dieses Werkes ist, die ich je gehört habe. Zum anderen aber über- rascht die enorme Begeisterung des Publikums, das nach jedem Teil in Ovationen ausbricht - und nach dem letzten Stück, Blaník, spontan die Nationalhymne anstimmt. 
Verständlich wird diese Euphorie, wenn man sich bewusst macht, dass die Tschechoslowakei seit dem 15. März 1939 besetzt war - und man staunt, dass es Talich trotzdem gelungen ist, in diesem Jahr den ersten Jahrgang des Festivals "Prager musikalischer Mai" zu starten. Es war so erfolgreich, dass einige Konzerte wiederholt werden mussten. Dass die Behörden im Protektorat Böhmen und Mähren dieses Festival durchaus kritisch sahen, zeigt sich unter anderem daran, dass im darauffolgenden Jahr Tábor und Blaník nicht mehr gespielt werden durften. Denn beide Werke appellieren an den tschechischen Patriotismus - und eine solche Demonstration war bei den deutschen Besatzern ganz sicher nicht erwünscht. 
Kurioserweise wurde Talich 1945 der Kollaboration beschuldigt, sieben lange Wochen sogar inhaftiert, und in den nachfolgenden Jahren permanent schikaniert. Es wird vermutet, dass dies in erster Linie an seinem Engagement für das Werk Josef Suks gelegen haben könnte. Dieser war mit Otilie verheiratet, der Tochter Dvoráks - um die junge Frau hatte einst aber auch ein gewisser Zdenek Nejedlý geworben. Der Musikwissenschaftler wurde 1945 Minister für Schul- wesen, Wissenschaft und Kunst. Er stammte aus Litomysl, dem Geburtsort Smetanas, und hatte offenbar eine Abneigung gegen Janácek, Dvorák - und ganz besonders gegen dessen Schüler Suk. Kaum zu glauben, aber im real existierenden Sozialismus konnte das tatsächlich ein Grund sein, Karriere und Gesundheit eines zuvor europaweit erfolgreichen Dirigenten zu ruinieren. 

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